Schimmelreiter

Die Novelle des Juristen, Dichters und Novellisten Theodor Storm zählt zu seinen bekanntesten Werken. Es war Storms letzte Novelle, die im Jahre 1888 veröffentlicht wurde. Nicht wenige Nordfriesen verbinden mit dem ›Schimmelreiter‹ ein auf Nordfriesland bezogenes Epos.

Inhaltsangabe:
Schimmelreiter | Sylter LeuchtturmDer Ich-Erzähler berichtet von einem Ereignis, das sich in den Zwanziger Jahren des Neunzehnten Jahrhunderts ereignete: Während eines schon seit Tagen anhaltenden starken Unwetters im Oktober reitet der Erzähler, vom Hofe eines Verwandten kommend, auf einem nordfriesischen Deich in Richtung Stadt, die noch einige Stunden von ihm entfernt liegt. Die Dämmerung setzt bereits ein und auf den Weideflächen der Marsch ist das Vieh bereits entfernt worden. Eintönigkeit und schneidende Kälte breiten sich aus, während die gelb-grauen Wellen im Sturm wütend gegen den Deich schlagen. Inseln und Halligen lassen sich nicht mehr erkennen, Himmel und Erde nicht mehr unterscheiden. Der Erzähler verspürt angesichts des bedrohlichen Sturms, der zunehmenden Finsternis, Kälte und Nässe den starken Wunsch, in die Sicherheit des warmen Quartiers umzukehren. Doch der Weg zurück war bereits länger als der nach dem Reiseziel.

Vertieft in solchen Betrachtungen erkennt er im fahlen Licht des Mondes plötzlich eine dunkle Gestalt, die sich ihm auf einem hageren und hochbeinigen Schimmel zügig nähert, bis diese mit im Winde flatterndem, dunklem Mantel an ihm vorbei eilt. In dem kurzen Augenblick der Begegnung sehen ihn »zwei brennenden Augen aus einem bleichen Antlitz an« (Schimmelreiter, 2016, Seite 11). Und obwohl Pferd und Reiter dicht am Erzähler vorbei hasten, sind weder Hufschlag noch Keuchen des Pferdes zu vernehmen. Noch während der Ich-Erzähler über diesen sonderbaren Vorgang nachdenkt, eilen Ross und Reiter von rückwärts kommend wieder dicht an ihm vorbei. Auch diesmal geschieht dies wie schon zuvor auf unheimliche Weise lautlos. Wenig später verschwindet die Gestalt allmählich in Richtung Binnenseite des Deiches.

Mit Erleichterung sieht er kurze Zeit darauf die Lichter eines großen Hauses, das auf halber Höhe des Binnendeiches steht und sich als Wirtshaus herausstellt. Er tritt in den Gastraum ein und gewahrt etwa ein Dutzend Männer, die an einem großen Tisch sitzen. Schnell kommt er mit dem dort anwesenden Deichgrafen ins Gespräch, dem er von der sonderbaren und lautlos vorbeieilenden Gestalt auf dem Deich berichtet. Unvermittelt wird es still in dem Gasthaus, bis jemand unter den Anwesenden erschrocken ruft: »Der Schimmelreiter!« (Schimmelreiter, 2016, Seite 14). Der Ich-Erzähler wird neugierig und möchte nun mehr wissen und was es mit dem ›Schimmelreiter‹ auf sich habe. Ein in der hinteren Gaststube, etwas abseits sitzender, schon leicht gebeugter Schulmeister wird als geeigneter Berichterstatter angesehen und von den übrigen Anwesenden gedrängt, von den Ereignissen zu berichten, die sich um den ›Schimmelreiter‹ ranken.

Der Schulmeister lässt sich nicht lange bitten, während er sich mit zustimmendem Lächeln zum Ich-Erzähler und zu den übrigen Gästen an den langen Gaststubentisch setzt. Die nun von ihm vorgetragene Geschichte geschah etwa um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt jener Ereignisse steht der noch junge und spätere Deichgraf Hauke Haien, die Hauptfigur der Novelle ›Der Schimmelreiter‹, und dessen Vater Tede Haien, der einige Fennen mit Raps und Bohnen unterhält. Schon früh sieht der Junge seinem Vater zu, der häufig Messungen und Berechnungen durchführt und allerhand Notizen entwirft. Eines Tages findet der neugierige Hauke auf dem Dachboden des Elternhauses ein holländisches Buch von Euklid, außerdem eine holländische Grammatik. Beide noch vom Großvater stammenden Bücher kann er behalten. Tede Haien zweifelt zunächst den Nutzen beider Ausgaben für seinen Sohn an. Doch der Winter hat gerade erst begonnen und der Mathematiker Euklid von Alexandria (geboren etwa 365 v. Chr.) entspricht in gewisser Weise dem aktuellen Zeitgeist. Gegen Ende April, zur Blütezeit der Stachelbeeren, hatte Hauke Haien ›seinen‹ Euklid, den er immer bei sich trägt, in vielen Teilen bereits verstanden.

Tede Haien, der für die Studien seines Sohnes wenig Verständnis aufbringt, muss erkennen, dass dieser für Kühe und Schafe wenig im Sinn hat und er einen ›Halbgelehrten‹ für seine Fennen nicht brauchen kann. Deshalb schickt seinen Jungen an den Deich, wo er mit anderen Arbeitern bis gegen Ende Oktober Erde karren soll. »Das wird ihn vom Euklid kurieren«, hofft er bei sich selbst (Schimmelreiter, 2016, Seite 17). Doch der Vater täuscht sich. Hauke Haien karrt zwar an jedem Tag die Erde und schafft gewöhnlich auch mehr als seine Mitstreiter. In den Pausen aber sitzt er auf seiner umgestülpten Karre und beschäftigt sich ausdauernd mit seinem Euklid. Im Herbst muss bei ansteigenden Fluten die Arbeit hin und wieder eingestellt werden. Hauke nutzt die freie Zeit, um Stunde für Stunde an der Außenböschung des Deiches zu sitzen und die hart hinaufschlagenden Nordseewellen zu beobachten. Hin und wieder rückt er, bei ansteigenden Fluten, einige Fuß höher hinauf und beobachtet dann wieder unermüdlich das anschlagende Wasser. Häufig verharrt er so bis in die einbrechende Nacht, während die anschlagenden Wellen immer wieder an die gleiche Stelle schlagen und ganz allmählich »vor seinen Augen die Grasnarbe des steilen Deiches auswuschen« (Schimmelreiter, 2016, Seite 18). In Hauke Haien reift die Erkenntnis, dass die Deiche zur Seeseite hin zu steil sind und zu viel Angriffsfläche bieten, die sie auf Dauer nicht bestehen können. Nur duch einen sanfteren Abfall lässt sich seiner Überzeugung nach die die Wucht des anschlagenden Wassers mildern.

So zieht es Hauke selbst bei ansteigenden Fluten und heftigen Winden immer wieder zum Deich; Anlass für immer wieder auftretende Auseinandersetzungen mit seinem Vater, der indessen fürchtet, dass sein Sohn in den ansteigenden Fluten eines Tages noch umkommen werde. Aber der ehrgeizige Hauke bleibt unverdrossen bei seiner Haltung. Für ihn bieten die Deiche kaum Sicherheit, da die Wasserseite zu steil ist. Und den anrollenden Wassermassen haben sie nicht viel entgegenzusetzen. Deshalb sind sie in seinen Augen wertlos, sie taugen einfach nichts.

In den folgenden Monaten nimmt Haukes Unzufriedenheit zu und auch die Streitigkeiten mit dem alten Vater werden nicht weniger. Im einem unkontrollierten Jähzorn erwürgt Hauke eines Tages den Angorakater, Lebensinhalt und Zierde der alten Trien‘ Jans, als dieser ihm in einem unbemerkten Augenblick einen zuvor gefangenen Vogel entreißt. »Man wird grimmig in sich, wenn man’s nicht an einem ordentlichen Stück Arbeit auslassen kann« (Schimmelreiter, 2016, Seite 29), gibt Hauke gegenüber seinem Vater zu erkennen. Der alte Tede, der fürchten muss, dass alles nur noch schlimmer kommen könne, fordert deshalb von seinem Sohn, dass es Zeit sei, sich endlich einen Dienst zu beschaffen. Außerdem sei die Kate, in der sie lebten, für beide auf Dauer zu klein.

Hauke stimmt seinem Vater bei und schlägt vor, im Hause des Deichgrafen Tede Volkerts, der mit seiner achtzehnjährigen Tochter Elke ein langgestrecktes, großes Haus unterhält, als Kleinknecht seinen Dienst verrichten zu wollen. Zufällig sei diese Posten gerade frei geworden, da der Hauswirt seinen bisherigen Kleinknecht wegen fehlender Zuverlässigkeit habe fortjagen müssen. Insgeheim verbindet Hauke mit diesem Wunsch die stille Hoffnung, dass er seine Fähigkeiten im Umgang mit Zahlen würde einbringen und es künftig selbst einmal zum Deichgrafen zu bringen. Doch in den Augen Tede Haiens ist Tede Volkerts einfach nur »dumm wie ’ne Saatgans« (Schimmelreiter, 2016, Seite 30), der es nur deshalb zum Deichgrafen habe bringen können, weil schon sein Vater und Großvater Deichgrafen gewesen seien und weil er 29 Fennen (Fenne = Weidefläche der Marsch) besitzt. Trotz der vorhandenen Vorbehalte ermuntert Tede Haien schließlich seinen Sohn, sein Glück zu versuchen. Da Tede Volkerts von Zahlen und Rechnunen nicht viel versteht, steht Elke ihrem Vater hin und wieder in der Buchhaltung und notwendigen Rechnungen zur Seite. Wenn aber um Martini herum die Deich- und Sielrechnungen anstehen, wird der Schulmeister vom behäbigen Tede Volkerts mit Weizenkringeln, Gansbraten und Met geködert und umschmeichelt, so dass dieser mit gespitzter Feder die Zahlenkolonnen durchläuft und die Rechnungen schreibt.

Am darauffolgenden Tag sprechen Tede und Hauke Haien beim Deichgrafen vor, der bald darauf auch sein Einverständnis erklärt und in Hauke jemanden findet, der ihm nicht nur am Deich, vielmehr auch in der Buchhaltung zur Seite stehen und »mit Feder oder Rechenstift so manches profitieren« kann (Schimmelreiter, 2016, Seite 36). Tede Haien handelt für seinen Sohn noch einige weitere Vergünstigungen aus, die zuvor zwischen Vater und Sohn zu wenig bedacht und nun im anschließenden Kontrakt festgelegt werden.

Wenig einverstanden mit Hauke Haien ist der gesprächige und ebenfalls im Hause des Deichgrafen tätige Großknecht Ole Peters, der mit dem zwar stillen aber geistig weit überlegenen Hauke nicht viel anzufangen weiß. Den schlichten, stämmigen, übergewichtigen und gutmütigen Vorgänger Haukes, Niß, konnte er noch nach Belieben herumstoßen und für grobe Arbeiten einteilen. Mit Hauke, der eine ganz eigene, selbstbewusste Art hat, ihn anzuschauen, ist dies allerdings nicht möglich, obgleich er stets versucht, ihn für schwere Arbeiten einzuteilen, die seinem schlanken, noch nicht gefestigten Körper hätten gefährlich werden können. Aber Elke Volkerts, die sich mit dem Jungen sehr verbunden fühlt und ihn gut versteht, weiß dies regelmäßig abzuwenden.

Eines Abends, im Mai, holt sich der alte Deichgraf Hauke zum ersten Mal in die Stube, um notwendige Berechnungen durchzuführen zu lassen. In den kommenden Monaten geschieht dies immer häufiger, während der Deichgraf nicht selten in seinem Lehnstuhl im hinteren Teil der Stube einschläft und dazu vernehmlich schnarcht. Für Hauke und Elke sind dies die seltenen Momente, um leise miteinander zu sprechen und ihr Interesse füreinander zeigen zu können. Auch ist dies die Zeit, in der Hauke gegenüber Tede Volkerts auf Mißstände draußen am Deich hinweist und darauf, dass die Durchsetzung der Deichordnung zu wenig Beachtung fände, er nutzt das Beisammensein, auf schädliches Handeln oder Unterlassen in Deichangelegenheiten hinzuweisen. Endlich kommt es mehr und mehr sowohl in der Verwaltung als auch am Deich zu lebhafteren Aktivitäten, die der Oberdeichgraf, wenn er zur Begutachtung kam, dem behäbigen Deichgrafen gegenüber lobend herausstellt, in der Annahme, dass sie von diesem ausgehen würden. Tatsächlich ist Hauke es, der alles das sieht, was der alte Deichgraf eigentlich hätte sehen sollen.

Inzwischen war Hauke in seinem dritten Dienstjahr, in welchem, wie in jedem Jahr, das traditionelle Winterfest, auch als ›Eisboseln‹ bezeichnet, abgehalten wurde. Jeweils neun Werfer bildeten die Geestmannschaft auf der einen und die Marschmannschaft auf der anderen Seite. Hauke, der fürchtete, von seinem Konkurrenten Ole Peters, der als Kretler (Wortführer) der Marschteilnehmer einen Ehrenposten innehatte, zurückgewiesen zu werden, wollte sich eigentlich nicht beteiligen, ließ sich aber von Elke Volkerts zur Teilnahme überreden. Trotz der Bemühungen Ole Peters, ihn als Mitglied der Marschmannschaft fernhalten zu wollen, wurde Hauke – von Ole bezüglich Elke Volkerts als Kokurrent betrachtet – von der Mehrheit der Teilnehmer als der ›wahre‹ Deichgraf angesehen und daher als unentbehrlicher Werfer eingeteilt. Für die übrigen Werfer sollte sich diese Eintscheidung als richtig herausstellen. Das Spiel dauerte bis in den frühen Abend hinein. Hauke, der sich bereits während seiner Knabenzeit täglich in Mathematik und Wurftechnik übte, erzielte mit jedem Wurf eine größere Weite, bis die weiß gekalkte Tonne endlich in Sichtweite kam. Und nun ließ Hauke die Kugel vor seinem nächsten Wurf einige Male in seiner Hand auf und ab gleiten, bevor er sie schließlich in einem entschlossenen Kraftaufwand und mit äußerster Anspannung aller Sinne für die Umstehenden ganz unerwartet in die noch weit entfernte Tonne platzierte und der Marschmannschaft den ersehnten und bejubelten Sieg brachte.

Mit Hochrufen auf Hauke (»Hurra für Hauke!«) machte sich die Menge lärmend und ausgelassen auf den Weg zum Kirchspielskrug, wo man den Sieg der Marschleute feierte und und wo man tanzte. Für Elke und Hauke war dies der Ort, in welchem Elke ihre Zuneigung zu Hauke eindeutig bekundete. Ole Peters, offenbarte sie Hauke gegenüber, habe mit ihr tanzen wollen, gegönnt habe sie es ihm aber nicht, den habe sie zurückgewiesen, »der kommt nicht wieder!« (Der Schimmelreiter, Seite 56). Dies und mehr besprachen Sie leise und etwas abseits miteinander. Spät am Abend gingen beide, sich an den Händen haltend, mit Frühlingsgefühlen im kalten Januar nach Hause.

Am darauffolgenden Sonntag besucht Hauke den alten Goldschmied Andersen, um für Elke einen passenden Goldring auszusuchen. Als er sieht, dass dieser auch auf seinen kleinen Finger passt bezahlt Hauke ihn mit großer Verlegenheit und verwahrt ihn von da an mit Unruhe und gleichzeitig mit Stolz Woche für Woche in seiner Westentasche. Eines Tages, so hofft er, würde sich der passende Augenblick schon ergeben, um ihn Elke über den Finger zu streifen. Ole Peters, sein ärgster Kontrahent, kündigt etwa ein Jahr nach dem Winterfesttag, seinen Dienst als Großknecht, um die übergewichtige Vollina Harders, mit der er während des Winterfestes ausgiebig getanzt hatte, zu heiraten. Immerhin besitzt Vollinas Vater, Jeß Harders, 25 Demat Marschboden (1 Demat = 5700 qm). Und mit der Heirat kann Ole seine dienstliche Stellung endlich erheblich verbessern, zumal Jeß Harders sich nun auf sein Altenteil zurückzieht. Hauke rückt nun zum Großknecht auf, während ein jüngerer seinen bisherigen Dienst als Kleinknecht übernimmt.

Eines Tages, ein weiteres Jahr war vergangen, bekennt Hauke gegenüber Elke, dass sein alter Vater sich zunehmend quäle und kümmerlicher werde und die Zeit, die der Wirt ihm für dessen Wirtschaft lasse, nicht mehr ausreiche. Er dürfe sich das nicht länger ansehen, müsse sich mehr um ihn kümmern und den Dienst bei ihrem Vater aufgeben, um nach dem Rechten sehen zu können. Elke schweigt eine Weile, zeigt aber Verständnis und erwidert, dass sie wegen seines alten Vaters auch an ihren Vater denken müsse, von dem sie das Gefühl habe, auch er bereite sich langsam auf seinen Tod vor.

Durch Elkes Fürsprache kann Hauke den Dienst ohne rechtzeitige Kündigung vorzeitig verlassen, um für den kranken Vater da zu sein. Monate später, kurz vor seinem Tod, holt Tede Haien seinen Sohn noch einmal zu sich. Mit schwacher Stimme erwähnt er ein Dokument, das in der obersten Schublade der Schatulle liege und in dem die Fenne der alten Anje Wohlers, die den Boden wegen ihres hohen Alters habe nicht mehr bewältigen können, mit fünf und einem halben Demat auf Tede Haien übertragen habe. Jedes Jahr um Martini habe er der Alten eine bestimmte Summe seines Ersparten gegeben. Und da sein Sohn schon als Knabe den Wunsch in sich verspürt habe, es selbst einmal zum Deichgrafen bringen zu wollen, habe er, der Vater, in dessen Dienstzeit knapp gelebt, um den vorhandenen eigenen Marschboden, der ihm vielleicht einmal zusammen mit dem von Antje Wohlers zusätzlich erworbenen von Nutzen sein werde, zu vergrößern.
Hauke ist von dieser väterlichen Zuwendung äußerst ergriffen und während seiner noch an den Vater gerichteten, mühsam hervorgebrachten Dankesworte schläft Tede Haien für immer ein.

Elke sucht Hauke einen Tag nach dem Begräbnis auf, um in dessem Hause für Ordnung zu sorgen, da der Vater vor lauter Zahlen und Grundrissen nicht viel um sich geschaut habe, denn »auch der Tod schafft Wirrsal; ich will’s Dir wieder ein wenig lebig machen!« (Der Schimmelreiter, Seite 61). Trotz Trauer und Schmerz um den Verlust seines Vaters zeigt Hauke sich ihr gegenüber dankbar und erleichtert. Nach den Aufräumarbeiten, die bis in die Dämmerung hinein dauern, suchen sie die geräumige Wohnstube des Deichgrafen auf, um dort gemeinsam zu Abend zu essen. Ihr Vater habe, so Elke, ausdrücklich darum gebeten, Hauke mitzubringen. Tede Volkerts, der gewohnt schwerfällig in seinem Lehnstuhl sitzt, spricht sogleich von der immensen Arbeit die bevorstünde, von der bevorstehenden Herbstschau, von großen Mengen an Deich- und Sielrechnungen und schließlich von dem neuerlichen Deichschaden am Westerkoog. Alles das müsse getan werden und er, der Deichgraf, wisse nicht, wo ihm der Kopf stünde und Hauke sei nun mal um einiges jünger, könne noch eine Menge verrichten. Eine ungewohnt lange Rede des Alten, die Hauke schließlich davon überzeugt, die Arbeit des Deichgrafen zu übernehmen, so dass bereits der größte Teil bis zur anstehenden Herbstschau erledigt ist.

An dieser Stelle unterbricht sich der alte Schulmeister, da vom Hausflur her laute Geräusche vernehmbar sind. Zwei Männer betreten den Gastraum. Deichgraf und Gevollmächtigte schauen gespannt auf sie und fragen, was passiert sei. Beide Männer versichern, es mit eigenen Augen und nur einmal gesehen zu haben: Der Schimmelreiter habe sich in den Bruch gestürzt, es habe ausgesehen wie eine Art Schatten. Der bis dahin anwesende Deichgraf entschuldigt sich gegenüber dem Gast und verlässt mit den übrigen Männern die Schänke, um nachzusehen, was es damit auf sich habe. Der Ich-Erzähler bleibt unterdessen mit dem alten Schulmeister in der öden und leeren Gaststube allein zurück. Da der Schulmeister, der im gleichen Hause eine Giebelstube bewohnt, bittet den Gast auf sein Zimmer, wo es wärmer und behaglicher in seinem Ohrenlehnstuhl sei. Hier nun fährt er mit der Geschichte des Lebensweges von Hauke Haien fort:

Hauke tritt nach dem Tod seines Vaters, zusammen mit der Wohler’schen Fenne, sein väterliches Erbe an. Da inzwischen auch Antje Wohlers ihrem Leiden erlegen war, geht die Fenne in den vollständigen Besitz Haukes über. Für ihn bildet sie den eigentlich ersten Grundstein für den seit seiner Knabenzeit in sich getragenen Keim, dass er der rechte Mann sei, wenn es eines Tages einen neuen Deichgrafen geben sollte. Sein Vater, war es schließlich, dem er die Fenne zu verdanken hatte und die eine Art letzte Beigabe war, welche ihm den Weg zum künftigen Deichgrafen würde ebnen können. Unter den Dorfbewohner hat Hauke sich keine Freunde machen können, zumal er gegenüber der Deichverwaltung immer wieder auf die vielfältigen Mißstände hingewiesen und so manche Änderungen erzwungen hat. Vor seinem inneren Auge sieht er daher nur böse Blicke auf sich gerichtet. Ehrenhaftigkeit und Zuneigung auf der einen Seite, Ehrsucht und Hass auf der anderen Seite sind die stets widersteitenden Gefühle, die in dem jungen Hauke sich zwar regen und gegenwärtig sind, gegenüber der nichtsahnenden Elke aber verborgen bleiben.

Im folgenden Jahr gehören Elke und Hauke zu den geladenen Gästen einer Hochzeit. Zufällig sitzen beide nebeneinander, da ein näherer Verwandter für die Feier ausfällt. Und obwohl beide darüber sehr erfreut sind, sitzt Elke an diesem Tag etwas teilnahmslos und traurig inmitten des regen Treibens, der anhaltenden Geräuschkulisse und des klirrenden Geschirrs. Mit einem Gefühl aufkeimender Eifersucht sieht Hauke den Augenblick gekommen, Elke den Goldring überzustreifen. Mit zitternder Stimme fragt er sie, ob sie den Ring sitzen lasse, während Elke fragt, ob er warten könne. Jetzt erfährt Hauke auch den Grund für ihre Trauer und Teilnahmslosigkeit. Sie deutet an, dass es ihrem Vater sehr schlecht gehe und sie mit seinem nahen Tod rechnen müsse. Aber er müsse nicht fürchten, dass sie den Ring zu ihren Lebzeiten werde zurückgeben wollen. Zwischen Elke und Hauke entsteht ein inniges Gefühl der Verbundenheit. Beide lächeln und pressen ihre Hände fest ineinander.

Nach Ostern tritt ein, was Elke schon ahnte. Tede Volkerts wird tot und mit friedlichem Gesichtsausdruck in seinem Bett gefunden. Schon in den letzten Tagen hatte er nur noch wenig Lebenswillen aufbringen können. Selbst seinem geliebten Ofenbraten und seinen Enten brachte er kein Interesse mehr entgegen.
Seine letzte Ruhestätte findet Tede Volkerts oben auf der Geest, auf dem Friedhof um die Kirche herum, neben seinem Vater, dem früheren Deichgrafen, Volkert Tedsen. Aus allen Kirchspielsdörfern kommen nun, unten von der Marsch heran, viele Wagen, auf dessen vorderstem der schwere Sarg steht. Zahlreiche Menschen, Jungen mit kleinen Kindern auf den Armen, säumen den mit Wällen umgebenen Friedhof. Jeder will das Begräbnis sehen und daran teilnehmen.
Elke richtet währenddessen im Hause, drunten in der Marsch, in Pesel und Wohnstube das Leichenmahl her, fügt den Gedecken alten Wein hinzu und je eine Flasche Langkork für den Pastor und Oberdeichgraf, die ebenfalls erwartet werden. Nach ihren Vorbereitungen tritt sie vor die Hoftür und sieht drüben im Dorfe noch die letzten Wagen zur Kirche fahren. Es entstehen unruhige Bewegungen, denen eine Totenstille zu folgen scheinen. Für Elke wird klar, dass sich in diesem Augenblick wohl der Sarg in die Grube senkt. Elke faltet die Hände, ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie verharrt eine Weile in stillem Gebet und bleibt lange noch unbeweglich stehen, »sie, die jetzige Herrin dieses großen Marschhofes; und Gedanken des Todes und des Lebens« (Schimmelreiter, 2016, Seite 69) sind die sich widerstreitenden Gefühlsregungen, von denen sie erbarmungslos überwältigt wird.

© Fotografie | Dieter Johannsen

Literaturverzeichnis

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